Die innere Wahrheit des Julian Reichelt


Eine Analyse von Johann Aschenbrenner

„Ich glaube, alle diese Schlagzeilen haben eine tiefe innere Wahrheit und Berechtigung“, sagt Julian Reichelt im GO-PUBLIC-Interview über „BILD“-Schlagzeilen wie „Islam-Rabatt“. Das ist ein interessanter Satz, denn er offenbart, wie „BILD“ Überschriften wählt. Wenn eine Schlagzeile eine „tiefe innere Wahrheit“ hat (vielleicht könnte man auch sagen: eine gefühlte?), dann genügt das, dann ist die tatsächliche Wahrheit, die vielleicht nicht mit der „inneren“ Wahrheit übereinstimmt, nicht mehr vonnöten. Denn die „tiefe innere Wahrheit“ ist in diesem Fall schlichtweg nicht wahr, das zeigt sich zum Beispiel, wenn man dem angeblichen „Islam-Rabatt“ auf den Grund geht: 

 

Richtig ist, dass der Richter eine besondere Schwere der Schuld in einem konkreten Fall, in dem eine schwangere Frau von ihrem Ex-Freund niedergestochen wurde, verneinte und dies damit begründet hatte, dass der Angeklagte charakterlich ungefestigt sei und sich aufgrund seines familiären und kulturellen Hintergrunds in einer Zwangssituation befunden habe. Danach sorgte die „BILD“ mit der Schlagzeile „Islam-Rabatt“ für Aufsehen. 

 

Aus diesem Urteil abzuleiten, dass es in Deutschland einen juristischen „Islam-Rabatt“ gebe, ist polemisch und irreführend. Erstens ist die Feststellung einer besonderen Schwere der Schuld äußerst selten: Beim NSU-Mitglied Beate Zschäpe etwa stellte das Münchner Oberlandesgericht eine besondere Schwere der Schuld. 

 

Zweitens jedoch berief sich die „BILD“ im oben erwähnten konkreten Fall auf eine Studie des Max-Planck-Instituts, um ihre Idee vom „Islam-Rabatt“ zu untermauern. Diese Studie kam jedoch aufgrund ihrer Ergebnisse zu einem ganz anderen Schluss. So stand 2014 im „SPIEGEL“:  

Deutsche Strafgerichte behandeln sogenannte Ehrenmörder nicht milder als andere Beziehungstäter, sondern sogar strenger. Das ergibt eine Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, die demnächst erscheint. Die Forscherin Julia Kasselt hat 78 Fälle zwischen 1996 und 2005 ausgewertet, bei denen die Täter Partner oder Verwandte wegen kultureller „Ehrencodices“ angegriffen hatten. [...] Das Fazit der Forscherin: „Die Justiz gibt Ehrenmördern keinen ‚kulturellen Rabatt‘.““

 

In der „ZEIT“ vom 4. Oktober 2018 erschien ein Artikel, der sich – wissenschaftlich untermauert – mit dem Phänomen auseinandersetzt, dass deutsche Gerichte bei sogenannten „Ehrenmorden“ deutlich härter urteilen als bei den in Deutschland kaum beachteten „Trennungstötungen“. Durchschnittlich bringt jeden dritten Tag ein deutscher Mann seine Frau um – von der Öffentlichkeit kaum beachtet und von der Justiz mit Nachsicht behandelt.  

 

Was also bleibt von Julian Reichelts „innerer Wahrheit“? Nicht mehr als ein Gefühl, das aber leider gar nicht wahr ist. Zu einem relevanten Faktum wird es erst, sobald Reichelt und die „BILD“-Schlagzeilen wie diese ins Land blasen und damit aus einem Gefühl eine real existierende Stimmung machen. 

 

„BILD“-Leser denken dann: „So isses, schön, dass ich mich da wiederfinde“, glaubt Julian Reichelt. Dieses „So-isses“-Dogma erinnert an das, was Donald Trumps Anhänger an ihrem Präsidenten so schätzen: „He tells it like it is.“ Ob das dann wahr ist oder nicht, ist egal, wichtig ist eben nur, dass das Gefühl stimmt, die „innere Wahrheit“. 

 

Wenn man aus einem Gefühl eine Tatsache macht, lässt sich alles beliebig aufbauschen: Die Aussage im GO-PUBLIC-Interview, „TITANICs“ #miomiogate sei im Zusammenspiel mit dem russischen Geheimdienst geschehen, ist eine völlig aus der Luft gegriffene Behauptung. Der „TITANIC“-Redakteur Moritz Hürtgen gab dem Kreml-treuen Sender „Russia Today“ nach der Aktion ein Interview. Eine Kooperation mit Putins Schergen ist das aber noch lange nicht. 

 

Donald Trump ist ein notorischer Lügner, das dürfte mittlerweile jedem klar sein. Julian Reichelt lügt nicht, er ist schlauer und hat sein eigenes Rezept:

 

Man nehme eine Tatsache oder ein Ereignis, zerre diese aus dem eigentlichen Kontext in einen neuen. Dies alles bette man in ein sowieso schon bestehendes Gefühl oder eine Stimmung ein und voilà: man schafft Fakten, die vorher noch gar keine waren. Das ist Qualitätsjournalismus à la „BILD“.