15. November 2018

 

So schlecht ist die Zeitung ja gar nicht geworden“ 

Julian Reichelt, ehemals Schüler des Gymnasium Othmarschen, inzwischen Chefredakteur der „BILD“ - Zeitung, über Werte, guten Journalismus und das Café Knips. Ein Interview mit der Schülerzeitung des GO.

Im Mai 2018 erscheint ein Portrait über Julian Reichelt im „SPIEGEL“. „Seitdem Julian Reichelt bei „BILD“ das Kommando übernommen hat, ist das Blatt im Kampfmodus“, schreibt das Magazin über den 38-Jährigen. Das Portrait birgt eine Überraschung: Reichelt war Schüler am GO. Endlich mal ein namhafter Abgänger, auch wenn er dann zu „BILD“ gegangen ist. Bevor er „BILD“-Chef wurde, war er lange Zeit als Kriegsreporter für Springer im Nahen Osten. 

Der Kontakt zu Reichelt ist schnell hergestellt. Kurze Zeit später kommt eine Antwort-Mail:

„Interview mach ich gern. Mein Büro koordiniert Termin. Best, j.“ 

Und tatsächlich: Sein Büro koordiniert Termin.

 

 

Julian Reichelt (Foto: Arvid Bachmann)

 

Berlin, 26. Juni: Zu Reichelts Büro im 16. Stock des Axel-Springer-Gebäudes in Kreuzberg kommt man nicht so einfach, man wird nach der Sicherheitskontrolle und penibler Überprüfung der Personalien durchs kafkaeske Springer-Labyrinth geführt. 

Im Vorzimmer zu Reichelts Büro wird man von der sehr freundlichen Romy empfangen, die sogleich etwas zu trinken anbietet – Wasser, im Kühlschrank wären aber sonst auch Bier und Wein gewesen. Reichelt kommt kurz aus seinem Büro, man wird begrüßt. „Julian“ stellt er sich vor. Er sagt, man müsse sich noch kurz gedulden. 

Später dann in Reichelts Büro: Der Schreibtisch ist kein Schreibtisch. Es ist eher eine Art riesiger Couchtisch. Um ihn rum sind große, graue Drehstühle angebracht. Reichelt sitzt in der Mitte, hinter ihm Berlin in der Abendsonne.

Ein Computer steht nicht auf dem Schreibtisch. Im SPIEGEL stand, er schreibe alle seine Texte auf dem Blackberry. Auf dem Tisch liegt ein Pizzakarton, noch vom Mittagessen. Zwei Stücke sind übriggeblieben. Er bietet sie an. 

 

Dann ist da noch die Zigarettenschachtel, die am Ende des Gesprächs höchstens halb so voll ist wie am Anfang. Reichelt fackelt im wahrsten Sinne des Wortes nicht lange. Ist eine Zigarette aus, zündet er sich gleich die nächste an. Hat er den Rauch einmal eingeatmet, stößt er ihn abrupt wieder aus, wie ein feuerspuckender Drache. 

 

In einer Ecke des Büros steht ein Tischchen, auf dem diverse Spirituosen drapiert sind. „Alles Geschenke“, sagt Reichelt. „Ja, ich weiß, wieder alle Klischees bedient.“

 

„Den Réné Castan, gibt’s den noch? Den hatte ich, als er noch Praktikant, nee wie heißt das, äh, Referendar war. Das war der erste Lehrer, den alle duzen durften“, beginnt Reichelt die Konversation.

 

Er hat auch noch bei Jürgen Nikodem Mathe gehabt: „Ich war so schlecht in Mathe, aber den mochte ich wirklich. Das war der einzige Lehrer, der mir das nicht persönlich übel genommen hat. Alle anderen haben mich dafür gehasst.“

Fangen wir also an. Ob man zwischendurch Fotos machen darf? „Klar, aber stellen wir mal vorher die Pizzaschachtel weg.“

 

 

GO-PUBLIC: Herr Reichelt, was treibt einen aus der Waitzstraße in den Irak?

 

Julian Reichelt: (lacht) Also erstmal war es die Bellmannstraße. Gute Frage. Also, das waren eigentlich zwei Faktoren. Erstens hatte ich eine tiefe Faszination für das ganze Thema Kriegs- und Krisenjournalismus. Und dann kam kurz nach meinem Abi, ich war ja Abi 2000…

 

Reichelts Handy klingelt. Er schaut kurz drauf, sagt: „Da muss ich rangehen. Tonband aus, bitte.“ Reichelt lehnt sich zurück und nimmt das Gespräch an. Er bleibt in seinem Sessel sitzen. Es ist der österreichische Bundeskanzler, Sebastian Kurz. Sie sind per Du, der Sebastian und der Julian. Leider besteht Reichelt im Nachhinein darauf, dass der Inhalt des Gesprächs nicht öffentlich gemacht wird.  

 

Nachdem er auflegt sagt er: „Wirklich eine spektakuläre Karriere: Ich hab´ ihn nur vier Mal in meinem Leben getroffen. Beim ersten Mal hab´ ich gesagt: Grüß Gott, Sebastian, beim zweiten Mal war’s: Grüß Gott, Herr Staatssekretär, beim dritten Mal: Grüß Gott, Herr Außenminister und beim vierten Mal: Grüß Gott, Herr Bundeskanzler.“

„So, ‘tschuldigung.“ Ohne Unterbrechung fängt er direkt dort an, wo er gerade aufgehört hatte.

 

Also, es waren zwei Sachen: Einmal war das immer eine Faszination, die ich hatte, aus Kriegs- und Krisengebieten zu berichten. Das zweite, was dann nach dem Abi kam, war 9/11. Da hab´  ich ja auch schon für „BILD“ gearbeitet. Mir war irgendwie klar, das wird die Geschichte meiner Reporter-Generation. Da war ich 21. Und ich wusste, so wie alle damals gesagt haben: „Die Welt wird nie mehr so sein, wie sie mal war.“ So ist es dann ja auch tatsächlich gewesen, ich glaube niemand hätte sich damals vorstellen können, wie sehr das stimmen würde, wie sehr sich die Welt danach verändern würde, wie groß das Aufeinanderprallen von westlicher Zivilisation und islamischer Welt sein würde, wie lange diese Auseinandersetzung anhalten würde, nämlich de facto bis heute, wie sie auch in unsere Städte wandern würde, durch die Themen Integration und Radikalisierung.

 

Und wie gesagt, ich habe gewusst: Das ist es. Das ist das Thema, was ich covern möchte. Und dann hab´ ich mich freiwillig gemeldet und hab´ das halt von Afghanistan über Irak, immer wieder Israel und seine Nachbarn bis zu den arabischen Revolutionen gecovert. Das habe ich auch immer als großes Geschenk empfunden, im Prinzip meine ganze Reporterkarriere lang, ein Thema covern zu können, was sich immer in irgendeiner Facette auf diesen einen Tag zurückführen ließ. Ich hab´ es „Front row seat to history“ genannt. Die Geschichtsbücher von morgen sind halt Zeitungsartikel. 

 

 

Wie war es damals in der Schule mit der Pressefreiheit?

 

Soweit ich mich erinnere, hatten wir da nie Probleme. Wie gesagt, das ist lange her, aber dass es Konflikte gab, die so massiv gewesen wären, dass ich sie bis heute in Erinnerung hätte, das war nicht so. Dazu muss man sagen, dass wir in keiner Weise in die journalistischen Sphären vorgestoßen sind, wie ihr mit eurer spektakulären Enthüllungsgeschichte (die Horst-S.-Story, d. Red.). Das war eher der Bereich: Lustiges, böse Witze, Nickligkeiten. Ich meine mich zu erinnern, dass irgendwann mal der Verkauf einer Ausgabe auf dem Schulgelände nicht stattfinden sollte, aber ich weiß nicht mehr warum. Ich hatte immer das Gefühl, dass viele Lehrer mich im freien Denken, was den Journalismus ja ausmacht, sehr unterstützt haben. 

 

Julian Reichelt als Chefredakteur der Schülerzeitung am Gymnasium Othmarschen
Reichelt als Chefredakteur der Schülerzeitung des Gymnasium Othmarschen

Was lesen Sie für Zeitungen?

 

 

Eigentlich konsequent eine Zeitung: „BILD“. Und das andere inzwischen aggregiert. Ich nutze Twitter als News-Feed sozusagen. Das, finde ich,  ist das Beste, damit einem nichts entgeht. Morgens schaue ich mir die Titelseiten an, um zu sehen, wie die anderen so gewichten. Aber eine konsequente Zeitungslektüre habe ich schon seit Jahren nicht mehr. 

 

 

Alexander Kühn, der Sie im Frühjahr für den „SPIEGEL“ portraitiert hat, hat gesagt, dass Sie auch beim „SPIEGEL“, der „Süddeutschen“ oder der „Zeit“ Karriere hätten machen können. Wieso sind Sie trotzdem zur Bild gegangen?

 

 

Das ist ein sehr lustiges Zitat, was mir schon sehr dünkelhaft erschien. Ich wollte tatsächlich nie irgendwas anderes machen. Bei Klassentreffen haben mich die Leute immer gefragt: „Wann gehst du denn jetzt endlich mal zu ‘ner vernünftigen Zeitung?“

 

Und ich hab´ geantwortet: Es ist hier ganz toll. Es fühlt sich sicher auch ganz toll an, wenn da „FAZ“ oder so auf der Visitenkarte steht. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass wir zu den ganz wenigen verbliebenen Medienmarken gehören, die tatsächlich in Journalismus vor Ort investieren. Wir nehmen wahnsinnige Kosten auf uns, um sicherzustellen, dass unsere Reporter vor Ort sind. Das ist etwas, was zur BILD-DNA gehört und was bei anderen Medienmarken, die nach außen prestigeträchtig sind, schon längst nicht mehr so ist. Ich hab´ ja erlebt, wie viele Reporter-Kollegen ich bei jeder Geschichte früher getroffen habe und wie wenige das nur noch sind. Es war mir immer wichtig, selber dabei zu sein.

Man sieht sich natürlich in einer Liga mit den ganz großen Medienmarken dieser Welt. Wir sind da, wo die „Post“ (The Washington Post, Anm. d. Red.) oder die „New York Times“ sind, oder umgekehrt: Die sind da, wo wir sind. In dieser Liga halten wir uns, auch durch strategisch kluge Entscheidungen, wie zum Beispiel die Umsetzung von Paid-Content. „BILD“ verdient mit Journalismus so viel Geld, dass wir uns grandiosen Journalismus leisten können. 

 

Das alles kommt in den ganzen Vorurteilen über „BILD“ nie vor, ist aber die Realität. Dann muss ich sagen: Ich fand es immer toll für eine Marke zu arbeiten, die einfach jeder kennt. Ob sie’s lieben oder hassen, sie wissen, das, was da steht, ist relevant. 

 

 

Würden Sie sagen, dass Geld und guter Journalismus zusammengehören?

 

Qualitativ hochwertiger Journalismus ist ohne hohe Investitionen nicht möglich. Die Art und Weise der Berichterstattung, die wir machen, die Themen, die wir abdecken, ist ohne hohe Investitionen schlichtweg nicht möglich. Das ist mir auch ein ganz wichtiger Punkt, dass wir als Journalisten sagen müssen: Journalismus ist wertvoll, Journalismus ist etwas wert. Es hat einen Wert für die Gesellschaft. Journalismus gibt es nicht umsonst. Umsonst gibt es Social-Media. Viel Spaß damit! Journalismus, der sich auf gewisse Standards und Regeln verständigt, der es sich erlaubt, mit eigenen Leuten und kritischem Blick vor Ort an die Quelle zu gehen, der kostet Geld und dafür sollten die Leute bezahlen. Es sollte eine Bereitschaft geben, dafür zu bezahlen. 

 

Ich glaube, wir haben in den letzten zwölf, 24 Monaten bei Social-Media gesehen, was das Alternativ-Modell zum Journalismus ist. Nämlich eine Welt, in der alles stimmt und nichts stimmt, in der jeder behaupten kann, was er möchte, in der sich Falschmeldungen besser verbreiten, als korrekte Meldungen, in der man es inzwischen mit einem hasserfüllten Diskussionsumfeld zu tun hat, was ich sehr abschreckend finde. 

 

Sie haben gerade über Stimmungen gesprochen, die die „BILD“ in der Bevölkerung aufnimmt. Wie ist das wirklich? Macht „BILD“ Stimmung oder nimmt sie Stimmung auf? 

 

Ich glaube nicht, dass wir Stimmung machen und ich glaube nicht, dass wir Stimmung machen sollten. Wir sollten, das gehört zu unserem Genre, mit Reportern, die überall in diesem Land unterwegs sind, ein Gespür dafür entwickeln, wie die Stimmung im Land ist. Diese Realität sollten wir in „BILD“ bestmöglich wiedergeben, das Große im Kleinen suchen, das Ganze im Menschlichen.

 

Sein Handy klingelt, „‘tschuldigung“, nimmt ab: „Nee, einer nach’m anderen. Bis gleich. Ciao!“

 

Ich halte es für möglich und plausibel, dass wir in der Lage sind, vorhandene Stimmungen zu verstärken. Ich glaube nicht, dass wir uns gegen vorhandene Stimmungen stellen können und Stimmungen drehen können. Dafür ist Stimmung etwas zu Diffuses. Ich halte es nicht für die Aufgabe von Journalisten, Stimmung zu schaffen oder Menschen in eine bestimmte Richtung zu erziehen. Sondern, ich glaube die Stärke von „BILD“ ist, dass die Menschen, die „BILD“ lesen sagen: „So isses. Schön, dass ich mich da wiederfinde“. Und, dass Menschen, die sich gegenüber der Politik oft machtlos oder ohne Stimme fühlen, das Gefühl haben, sie haben eine Stimme. 

 

 

Die Reportagen ihres Buches „Ich will von den Menschen erzählen“ sind besonnen, nachdenklich und leise. Die Schlagzeilen der „BILD“ dagegen sind laut, kurz und platt. Gibt es da einen inneren Konflikt bei Ihnen?

 

Nein, das ist einfach eine große Leidenschaft für ganz unterschiedliche Erzählformen. Ich finde es sehr spannend, ein Gefühl, eine Geschichte oder einen Sachverhalt, in einer Schlagzeile zu schildern, die das Ganze zusammenfasst. Es ist eine große Herausforderung und ein großer Spaß, Sachen knapp zu formulieren. Auf der anderen Seite schreibe ich für mein Leben gerne, mache das so oft wie möglich, auch wenn ich nicht mehr oft genug dazu komme. Ich liebe es, Sachverhalte ausführlich zu erzählen, 

Menschen ausführlich zu beschreiben, mich Menschen zu nähern, einzutauchen in deren Leben, sie zu verstehen und in irgendeiner Weise wiederzugeben, was diese Menschen antreibt. 

Das sind zwei unterschiedliche, aber durchaus gleichberechtigte Leidenschaften. 

Bei meinem ersten Buch war das auch eine Art Verarbeitungsmechanismus. Diese Dinge haben in der Zeitung und in der Kürze der Zeit gar keinen Platz gefunden. 

 

 

Sie haben Menschen sterben sehen im Krieg. Und hier sind Sie als „BILD“-Chef ständig unter Beschuss. Wie halten Sie das aus?

 

(zögert lange, knetet seine Hände)

 

Das mag pathetisch klingen: Nichts, was in diesem Büroalltag passieren kann: beschimpft, beschrien, angegriffen werden, kommt in irgendeiner Weise dem nahe, was ich vorher erlebt habe. Deswegen glaube ich, mache ich diesen Job mit großer Freude und das seit meiner Jugend. Ich arbeite ja journalistisch seit ich 15 bin und jeden Tag mit größter Freude. Ich bin noch nie in meinem Leben mürrisch zur Arbeit gefahren. 

 

Ich nehme all das, was ein Büroalltag und so eine Position mit sich bringt mit einer großen Gelassenheit, weil ich vorher Dinge erlebt habe, die mir gezeigt haben, worum es im Leben geht und worauf es als Mensch ankommt. Was wirklich schlimm ist, was Menschen alles ertragen müssen. Da würde ich es fast als obszön empfinden zu sagen, dass ich immer im „SPIEGEL“ oder auf Twitter kritisiert oder angefeindet werde. 

Ganz platt gesagt: Es gibt wirklich Schlimmeres im Leben. 

 

 

Wie skrupellos muss man sein, um „BILD“-Chefredakteur zu werden? Haben Sie ihr Ziel schon erreicht?

 

Ich habe in dem Sinne nie ein Ziel verfolgt. Ich wollte zwar immer „BILD“-Chefredakteur werden, als ich 13 oder 14 war, was ein sehr ungewöhnlicher Berufswunsch in dem Alter ist. Ich habe nie gesagt: Was muss ich jetzt machen? Mit wem muss ich mich gut stellen? In welchen Meetings muss ich sein? Ich habe tatsächlich, auch wenn es banal klingt, jeden Tag das gemacht, was ich am meisten liebe. Jeden Tag. Das hat mich dann geführt. Da bin ich sehr glücklich drüber.

Ich habe mir nie einen Karriereplan gemacht. Wenn ich jetzt noch den alten Job als Chefreporter hätte, auch das hätte ich noch 30 Jahre weitergemacht. Deshalb musste ich nicht skrupellos sein, sondern leidenschaftlich. 

 

 

Lassen Sie uns über Glaubwürdigkeit sprechen. Erinnern wir uns an die Fälle mit der „TITANIC“ wie #miomiogate oder die vermeintliche Aufkündigung der Unions-Fraktionsgemeinschaft: Machen Sie es denen, die sagen, Sie seien unglaubwürdig, nicht viel zu einfach, wenn Sie sich so leicht reinlegen lassen?

 

Also, ich wünsche mir, das wäre nicht passiert. Aber, wenn man sich die mehrseitige Dokumentation der Titanic anschaut, dann werdet ihr feststellen, dass wir alles andere als leicht darauf reingefallen sind. Sie haben es immer wieder versucht und sind immer wieder abgeblitzt. Wir haben diese Geschichte auch erst gemacht, als die SPD Strafanzeige erstattet hat. Was dann noch bleibt, ist eine falsch gewichtete Schlagzeile. Das Wort „bei“. Schmutzkampagne bei der SPD. Gegen die SPD wäre richtig gewesen. „Bei“ war scheiße. Es war eine Fehleinschätzung, es war falsch gewichtet als Schlagzeile, weil wir eben nicht wussten, von wem diese Fälschung stammt. Dass das eine Fälschung ist, war ja auch unsere Einschätzung. Das ging ja aus dem Text hervor. 

 

Mein persönlicher Eindruck ist, dass das mit Satire nichts zu tun hatte. Da wurde bewusst versucht, Medien Fälschungen unterzujubeln, um sie zu diskreditieren, auf hochprofessionelle Weise. Was mir Sorgen macht, ist der Umgang danach mit Desinformationsmedien wie „Russia Today“. Da stell‘ ich mir schon die Frage, ob diese Form von Diskreditierung westlicher, freier Medien im Zusammenspiel mit dem russischen Geheimdienst, ob das wirklich unter Satire fällt. 

 

 

Handy klingelt. „tschuldigung“, „Hallo, allright super, bis gleich, ciao, ciao. Ich muss mal kurz zum Vorstand. Ihr könnt hier abhängen. Nehmt euch ein Bier, spielt ein bisschen Playstation, wenn Ihr Lust habt. FIFA und Egoshooter hab´ ich. Ihr wisst ja, wie das funktioniert.“

 

 

Auf der einen Seite veröffentlichen Sie in der „BILD“ gerne mal unverpixelte Bilder von mutmaßlichen G20-Randalierern oder mutmaßlichen Terroristen im Gerichtssaal, gleichzeitig wollten ihre Kollegen von der „Welt“ neulich das Gauland-Badehosen-Foto nicht veröffentlichen. Chefredakteur Ulf Poschardt bezeichnete das Foto als „entwürdigend“. Wie passt das zusammen? Sind Werte für die Springer-Medien nach Belieben verdrehbar?

 

Die Springer-Medien haben den Wert, dass es „die Springer-Medien“, wie es immer so schön intoniert wird, nicht gibt. Jeder Chefredakteur arbeitet hier für sich. Ulf Poschardt macht vollkommen seine Sache, da quatschen wir uns gegenseitig nicht rein. Was Ulf Poschardt entscheidet, ist vollkommen seine Sache, genauso wie es meine Sache ist, was ich entscheide. Da gibt’s auch keine Linie oder so etwas. 

G-20 teilt sich auf in zwei verschiedene Komplexe. Einmal haben wir Nachrichtenfotos vom G-20-Gipfel gezeigt, natürlich unverpixelt. Nachrichtenfotos verpixeln wir nicht. Wir haben sehr darauf geachtet, Menschen zu zeigen, die klar erkennbar bei der Ausübung von Gewalt fotografiert wurden. Wer in einem freien Land Gewalt ausübt und dabei fotografiert wird, muss damit rechnen, dass das Foto dann auch in der Zeitung erscheint. 

Der andere Punkt waren Fahndungsfotos, die wir auf der Eins gezeigt haben, die die Polizei herausgegeben hat. In beiden Fällen ist der Presserat übrigens aktiv geworden. Für den ersten Fall gab es keine Rüge, sondern eine mindere Missbilligung, mit der ich gut leben kann. Ich halte es für absolut legitim, Fotos von Gewalttaten unverpixelt zu zeigen.

„BILD“ zu G20-Ausschreitungen: „G20 Chaoten - Ihr kommt nicht davon!“ (Foto: Noah Adams)

Die Fahndungsfotos zu zeigen, hat sogar der Presserat entschieden, war legitim. Bei unserer Schlagzeile „Polizei sucht nach dieser Krawall-Barbie“ hat der Presserat entschieden, dass dies absolut okay war. Der dritte Punkt, Terroristen, also mutmaßliche Schwerverbrecher, bei denen eine Verurteilung abzusehen ist, bei denen halte ich es sogar für unsere Aufgabe, sie so zu zeigen, wie sie sind. 

 

Wir haben wundervollerweise in unserem Rechtsstaat das Prinzip, dass man für seine Taten oder mutmaßliche Taten vor Gericht öffentlich mit seinem Gesicht und seinem vollen Namen einzustehen hat. Die ganze Idee dahinter, dass Presse aus dem Gerichtssaal berichtet, ist, dass diese Übernahme von Verantwortung zugänglich gemacht wird, denen, die nicht die Möglichkeit haben, im Gerichtssaal zu sein. 

 

 

Wie Sie das Ganze moralisch bewerten ist ein Sache. Zum genanntem Zeitpunkt gab es aber eine Anordnung des Gerichts, die Bilder nur verpixelt zu zeigen. Sie haben sich also über den Rechtsstaat, auf den Sie sich gerade berufen, hinweggesetzt. 

 

Da befinden wir uns noch in der gerichtlichen Auseinandersetzung, die glaube ich, bis in die höchste Instanz gehen wird. Dafür gibt es den Rechtsstaat. Da haben glücklicherweise auch wir die Möglichkeit, diesen Rechtsweg zu gehen.

Bei diesem Punkt ging es darum, dass der Angeklagte zwei Tage vor Prozessbeginn freiwillig an einer Dokumentation im NDR teilgenommen hat und sich mit vollem Gesicht gezeigt hat. In der Dokumentation ging es darum, was für ein armer Kerl er eigentlich ist und dass er eigentlich gar nicht zu ISIS wollte. Als es um seine Sicht der Dinge ging, war es kein Problem, ihn mit Gesicht zu zeigen, zwei Tage später ging es ihm um seine Persönlichkeitsrechte. Das ist einfach nur absurd und bigott. Das ist nach meinem Verständnis mit der Pressefreiheit nicht in Einklang zu bringen. 

 

 

Bei der „BILD“ gab es die „Refugees-Welcome“-Kampagne. Auf der anderen Seite gibt es auch immer wieder Schlagzeilen, die in die andere Richtung gehen. Stichwort „Islam-Rabatt“ oder Schlagzeilen wie „Machen Sie Abschiebung zur Chefsache, Frau Merkel“. Warum machen Sie auf diese Weise Stimmung gegen Flüchtlinge oder Muslime?

 

Wo machen wir denn Stimmung gegen Muslime oder Flüchtlinge? 

 

 

Schlagzeilen wie „Islam-Rabatt“ tragen doch den Vorwurf des Schmarotzertums in sich...

 

Nee, um Schmarotzer ging es dabei nicht. Es ging um Straf-Rabatt. Um Leute, denen ihre Weltsicht vor Gericht positiv angerechnet wurde. „Schmarotzer“ würde ich da nicht in den Mund nehmen.

 

 

Schlagzeilen schaffen Stimmungen. Die „BILD“-Zeitung beruft sich häufig darauf, was dann auf der Seite 2 steht. Wenn man die Schlagzeile „Islam-Rabatt“ liest, dann kreiert das doch eine gewisse Stimmung. Sie sind sich der Bedeutung der Eins doch sicher bewusst? 

 

Das ist eine Ansicht, die ich nicht teile. Ich glaube nicht, dass eine Schlagzeile an sich Stimmung macht, nur weil sie jemandem nicht gefällt. Ich weiß, dass das ein sehr beliebter Vorwurf ist, den man uns immer wieder macht: „Das auf der Seite 2 liest keiner mehr“. Aber das ist bei allen anderen Medien auch so. Ich weiß auch, dass man für diesen Vorwurf berechenbaren Applaus kriegt, auf sozialen Medien oder in der Kneipe am Prenzlauer Berg. Aber, ich glaube, alle diese Schlagzeilen haben eine tiefe innere Wahrheit und Berechtigung. Es gibt in Deutschland Rechtsprechung, die sich darauf beruft, dass man den kulturellen Hintergrund eines Straftäters mit einberechnen muss und dadurch das Strafmaß niedriger ausfällt, als es dann bei einem Christen ausfallen würde. Das halte ich für falsch. 

 

Ich glaube, dass die Schlagzeile „Machen Sie Abschiebung zur Chefsache, Frau Merkel“ in keiner Weise unserer bis heute sehr freundlichen und weltoffenen Haltung gegenüber Kriegsflüchtlingen widerspricht. Bei Abschiebungen geht es nicht um Kriegsflüchtlinge. Wir waren es, die sich dafür eingesetzt haben, dass Hunderttausende Kriegsflüchtlinge in Deutschland Zuflucht finden dürfen. Ich halte es bis heute für richtig, dass Menschen aus Syrien das Recht haben sollten, bei uns Zuflucht zu finden. Daran halte ich eisenhart fest. 

Ich glaube aber auch, dass wir als Land nur die Kraft und Kapazität haben, wenn wir auf der anderen Seite Menschen, die kein Recht haben, hier zu sein, klar sagen: Du fährst jetzt nach Hause. 

Ich bin im Übrigen auch für Familiennachzug, da gibt’s nicht mehr viele in Deutschland. Aber die Leute, die hierherkommen und kein Recht haben, hier zu sein, sollten eben wieder nach Hause geschickt werden. Deshalb glaube ich auch, dass das Thema Chefsache sein sollte. Es gibt kein Ja ohne Nein. 

 

 

Es ist jetzt schon 19 Uhr. Bald ist Redaktionsschluss. Immer wieder kommt eine Kollegin herein und reicht Reichelt Ausdrucke der Zeitung des nächsten Tages. Er überfliegt sie kurz und sagt: „So schlecht ist es gar nicht geworden, dafür, dass es so ein Scheisstag war.“ „Ja“, sagt die Kollegin, „dachte ich auch vorhin, aber ist echt ganz okay geworden.“ Reichelt lacht auf. Dann zündet er sich die nächste Zigarette an. 

 

 

Gestern stand auf der Website von „BILD“ im Gehaltscheck, was man als Autoschrauber, Pornostar oder Elitesoldat verdient. Im letzten Jahr veröffentlichte das Magazin „Kress“ eine Schätzung Ihres Gehalts. Sie hatten zuvor darum gebeten, dies nicht zu tun. Warum darf die Öffentlichkeit wissen, was ein Porno-Star verdient, nicht aber, was der Chefredakteur der „BILD“ verdient?

 

Stand da der Name von dem Porno-Star? Dem Autoschrauber?

 

 

Das Gehalt der Bundeskanzlerin zum Beispiel ist allgemein bekannt...

 

Die Bundeskanzlerin ist auch eine Angestellte der Menschen in diesem Staat. Deshalb ist es auch selbstverständlich, dass das öffentlich ist. Ihr könnt auch nachschauen, was eure Lehrer verdienen. In der Privatwirtschaft ist das eben nicht so, weil da kein zwingendes öffentliches Interesse besteht. Denn die Öffentlichkeit bezahlt mein Gehalt ja nicht. 

 

Ich hab´ damals ganz klar gesagt, dass es mir ausschließlich um Sicherheitserwägungen ging, weil es eben durchaus Menschen gibt, die mich nicht so wahnsinnig mögen. Die Drohungen, mit denen ich mich auseinandersetzen muss, sind ohnehin schon recht heftig.

 

 

Wie oft sind Sie mit Drohungen konfrontiert? Lesen Sie die überhaupt noch? 

 

Auf und ab. Manches davon lese ich zufällig, weil es auf Social-Media kommt. Das ist immer ein bisschen lageabhängig. Als wir uns mit Kollegah und Farid Bang und dem Echo beschäftigt haben, war das schon recht heftig und konkret, weil die sich in einem Milieu bewegen, was zumindest Berührungspunkte mit dem Islamistenmilieu hat, weil deren Texte ja eh zu Gewalt aufrufen. Deshalb ist deren Fanbase relativ locker auch mit konkreten Gewaltandrohungen.

 

Es gibt aber ganz verschiedene Milieus, aus denen das kommt. Zum Beispiel Drohungen, die aus dem Bereich traditioneller „BILD“-Hasser kommen, Menschen die sich gedanklich in irgendeiner Weise anschließen an das, was früher mal die RAF war, die grundsätzlich der Meinung sind, dass es in diesem Land Menschen gibt, die weggehören. Weil sie die in ihrer verkorksten Ideologie als Bedrohung ansehen, für das, was sie als Gesellschaft betrachten. So sehen manche Leute auch mich. 

 

Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag? Twittern Sie nur?

 

(lacht) Nix. Außer twittern eigentlich nix. Nein, ich twittere deutlich weniger, ich retweete meistens nur noch. Ich habe mich davon irgendwie gedanklich verabschiedet, genau aus den Gründen, die ich gerade genannt habe. Mir ist das zu radikal und zu hasserfüllt geworden. Es hat mir eine gewisse Zeit lang Spaß gebracht und ich habe gedacht, ich stecke das locker weg. Ich merke aber, seitdem ich mich daraus weitestgehend verabschiedet hab´, dass es sehr gut fürs Karma ist. Es verschafft einem Luft, sich nicht die ganze Zeit mit diesem Hass zu beschäftigen, der gegen einen gerichtet ist. Manche Sachen finde ich belustigend, aber manche Sachen treffen mich auch wirklich.

 

Was mache ich also unabhängig von Twitter? Ich beschäftige mich, soviel es geht, mit unseren Reportern. Ich versuche, den Draht mit unseren Reportern so kurz wie möglich zu halten und den auch selbst zu pflegen. Mein Tag besteht also daraus, die besten Geschichten für die geeigneten Plattformen von „BILD“ zu finden. Und sozusagen zu erspüren und zu ergründen: Was bewegt dieses Land? Und an welchen Punkten können wir das, was in diesem Land passiert, in der einen menschlichen Geschichte erzählen. Das ist es, was ich den ganzen Tag so mache. Und manchmal guck ich auch aus‘m Fenster. Das hab´ ich in der Schule auch schon sehr erfolgreich gemacht. 

 

 

Julian Reichelt Twitter
Twittern, Rauchen, Sitzenbleiben (Foto: Arvid Bachmann)

Eigentlich ist jetzt noch das Sommerfest vom Burda-Verlag mit vielen prominenten Politikern. Könnte also ein sehr interessanter Abend werden. „Aber ich hab´ so überhaupt keine Lust“, sagt Reichelt. 

 

Dann fragt Reichelt auch selber noch ein bisschen. Im „SPIEGEL“ stand, er würde gar nichts fragen. Allerdings lässt er einen meistens nicht ausreden. Wenn ihm die Antwort nicht schnell genug kommt, unterbricht er.

 

Man macht jetzt ja nur noch 12 Jahre. Reichelt hatte 14. In der achten sitzengeblieben. Auf dem Halbjahreszeugnis hatte er fünf 5en, auf dem Abschlusszeugnis dann nur noch zwei. Dass man mittlerweile nicht mehr sitzenbleiben kann, begeistert Reichelt. „Das wär ja ein Traum gewesen“, sagt er. „Ich wusste immer, ich brauch diese ganze Mathe-Physik-Chemie-Scheiße nie wieder. Ich wusste immer, was ich machen will. Wobei das mit dem Sitzenbleiben im Nachhinein eher gut war, die Klasse danach

war ‘ne Bereicherung für mich. 

 

 

 

Aber teilweise ist es schon so: Wozu man so gezwungen wird, selbst wenn man weiß, was man machen will. Dieser ganze Ableitungs-Scheiß, ich dachte immer: Glaubt’s mir, ich brauch’s nicht und ich werd’s niemals brauchen. Bei Prozentrechnung hab´ ich immer verstanden, wofür man das braucht. Dreisatz kann ich total gut, das ist das einzige, was ich in Mathe kann, weil ich immer wusste: Das braucht man im Leben“.

 

Reichelts lustigste Schul-Anekdote: „Beim Abi-Streich sind alle auf dem Schulhof ausgeflippt und mit ‘nem Edding rumgerannt. Man konnte sich seinen Abijahrgang auf die Wange schreiben lassen. Dann kamen die zu mir, haben gefragt: Wann machst du Abi? Und ich so: 2000. Das haben sie mir dann auf die Wange geschrieben. Dann war die Pause zu Ende, ich komm´ in meine Klasse und alle anderen hatten 99 auf der Wange stehen. Da wusste ich, dass das mit Mathe schwierig wird (lacht). Aber am Ende hat’s ja gestimmt“.

 

Dann fragt er: „Café Knips noch ‘ne große Nummer?“. Die Tradition, an Weihnachten nach der Bescherung ins Knips zu gehen, gab es damals auch schon. Reichelt ist Heiligabend meistens immer noch dort. Weihnachten verbringt er bei seinen Eltern. „Sind alle da geblieben“, sagt er über seine ehemaligen Mitschüler.  „Alle meine besten Freunde sind mit Leuten, mit denen sie zur Schule gegangen sind, verheiratet.“ 

 

Hamburg vermisst er jetzt, Berlin sei nicht so seine Stadt. „Es gibt aber auch Schlimmeres auf der Welt“. 

 

Jetzt ist endgültig Schluss, Reichelts Kollegin kommt mit einer offenen Flasche Wein rein, gleich will man auf den Feierabend anstoßen. Einige Klischees sind eben doch wahr. 

 

Das Gespräch führten Johann Aschenbrenner, Arvid Bachmann und Emma Brakel.